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07.03.2016

5 min

Reportage: Vögel zählen in der Einsamkeit

Mecklenburg-Vorpommerns unbekannte Inseln öffnen sich für Besucher, die ein Faible für die Natur haben

Fast unberührt: Die Insel Vilm bei Rügen (Foto: Tourismuszentrale Rügen) © Fast unberührt: Die Insel Vilm bei Rügen (Foto: Tourismuszentrale Rügen)
Mal kurz zum Bäcker und Brötchen holen, geht nicht. Auch für alles andere, was man so täglich zum Leben braucht, können die Bewohner von Ruden nicht einfach zum Kaufmann um die Ecke gehen. Denn um sie herum sind nur Wind und Wasser, weil Ruden ein gerade mal 0,3 Quadratkilometer großes Ostsee-Inselchen vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns ist. Keine Nachbarn, die stören könnten. Nur Schafe, die die meiste Zeit über friedlich grasen und deren Blöken sich mit dem Geschrei der Seevögel mischt, die für ihre Brutgeschäfte die Abgeschiedenheit der Insel ebenfalls lieben. Nahe des Kieferndünenwäldchens gleich hinter dem einzigen Wohnhaus auf Ruden kann man außerdem Singvögel belauschen und beobachten, die hier auf ihrem Weg gen Norden oder Süden gerne mal eine Pause einlegen. Wobei auch sie sich in Acht nehmen müssen vor Meister Reinecke, der die zuweilen zugefrorene Ostsee genutzt hat, um ebenfalls zum Inselbewohner zu werden. Über elf Jahre lang hüteten Conrad Marlow  und seine Frau Ursula Toth dieses kleine Paradies. Auf die zwischen Usedom und Rügen gelegene Mini-Insel war Marlow zunächst als Hafenmeister gekommen. Bald galt es jedoch immer weniger Segler oder andere Wassersportler an ihrem Ankerplatz einzuweisen. Denn der Rudener Hafen wurde zum Schutz von Fauna und Flora zurückgebaut. Jetzt sind es fast nur noch die „MS Seeadler“ oder die Motorfähre „Apollo 1“, die Kurs auf die ehemalige Lotseninsel im Greifswalder Bodden nehmen. Wobei beide Schiffe während der Hauptsaison dreimal vom Festland bei Freest und von Peenemünde auf Usedom ablegen, ansonsten aber an nur zwei Tagen die Woche einen Schiffsbauch voller Ausflügler nach Ruden bringen, deren Aufenthalt auf der kleinen Insel mit Rücksicht auf die Natur allerdings auf eine Stunde begrenzt ist. Wenig Zeit also, um all die Besonderheiten des Inselchens zu erkunden. Und um vielleicht auch noch die Aussicht vom roten Backstein-Messturm zu genießen, der im Zweiten Weltkrieg Teil der Heeresversuchsanstalt Peenemünde gewesen ist. Der ehemalige Messturm mit Blickverbindung aufs Festland beherbergt heute auch noch ein kleines Museum: Ruden-Besuchern bleibt leider die Qual der Wahl. Inzwischen kümmert sich der Verein Jordsand als einer der ältesten Naturschutzvereine Deutschlands um die Insel, denn das Ehepaar Marlow-Toth ist aus gesundheitlichen Gründen aufs Festland zurückgekehrt. Also hat der 30-jährige Biologe Tim Kress hier im Auftrag von Jordsand seine Arbeit als Vogelwart aufgenommen und wird dabei von zwei freiwilligen Helfern unterstützt. Später sollen für jeweils 18 Monate auch Mitarbeiter im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes auf Ruden leben: Wichtig ist dem Verein Jordsand, der allein in Mecklenburg-Vorpommern vier Inseln betreut, auch hier eine Kontinuität. Zu DDR-Zeiten ist auf dem früher kahlen Eiland jenes Wäldchen angelegt worden, das Studenten der Universität Greifswald mit pflegen helfen, da es weit über hundert Pflanzen beherbergt, von denen die meisten auf der Gefährdungsliste stehen. Dies ist mit einer der Gründe, weshalb Besucher die schmalen Sandwege nicht verlassen dürfen. Nicht mal in Ufernähe, denn auf der Insel leben 56 Brutpaare kleinerer und größerer Singvögel. Außerdem ist sie Ruheraum für den Seeadler und in ihrem Brackwasser fühlt sich nicht nur der Fischotter sondern auch der Biber wohl. Zwölf Kilometer vom Festland entfernt liegt die Greifswalder Oie. Auch dieses ehemalige militärische Sperrgebiet wird vom Verein Jordsand betreut und ist seit Lockerung des Betretungsverbotes ein ebenfalls exquisites Ziel mitten in der Ostsee, das sich zu besuchen lohnt. Ähnlich wie schon auf Ruden, darf wiederum nur eine überschaubare Zahl an Touristen die Insel erkunden, auf der auch die „Eugen“, ein Schiff der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), mit drei Mann Besatzung stationiert ist. Außerdem lebt Matthias Mehla auf der Greifswalder Oie. Er stammt aus Thüringen und ist Förster, und er kümmert sich hier um die vielfältige Naturschutzarbeit. Dazu gehört die Landschaftspflege der mit Ilex und riesigen Weißdornbäumen bestandenen Wälder: Bis weit in den Mai hinein wuchert in deren Schatten Bärlauch wie andernorts Unkraut. Hauptsächlich aber ist Matthias Mehla zuständig für die Vogelwarte, die der Verein Jordsand auf der Greifwalde Oie zu Forschungszwecken betreibt. Mindestens 20 000 Singvögel nutzen die von Steinwällen gegen Landverlust geschützte, 54 Hektar große Erhebung in der Ostsee auf ihrem Flug gen Norden oder Süden als Zwischenlandeplatz und werden von Mehla dabei durch Fangnetze gestoppt, in Windeseile beringt und vermessen und somit für die Wissenschaft registriert. Und sind’s mal keine gefiederten Gäste, keine Heidschnucken und keine Pommerschen Landschafe, die die Aufmerksamkeit des 32-jährigen Einsiedlers fordern, führt Matthias Mehla Besucher auf verschlungenen Pfaden gerne noch zur Bienenbelegstation. Fern von schädlichen Einflüssen werden hier die Königinnen gezüchtet für fleißige Honigsammlerinnen der Sorte Buckfast und Carnica. Und es nistet sich in deren Holzkästen auch mal ein Siebenschläfer ein, der sich nicht mal von Touristen erschrecken lässt, eher umgekehrt. Im Bereich des Greifswalder Bodden, der den Status eines FFH- und zugleich eines Europäischen Vogelschutzgebietes genießt, findet man mit Vilm noch eine weitere Ostseeinsel, die nicht Gefahr läuft, vom Tourismus vereinnahmt zu werden, wobei sie zu DDR-Zeiten schon mal eine Ferieninsel gewesen ist. Jedoch nicht für jedermann. Geschützt vor neugierigen Blicken seiner Volksgenossen hat von Beginn der 1960er Jahre bis zum Mauerfall der komplette Ministerrat der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auf Vilm Urlaub in den mit Rohr gedeckten Häusern gemacht, die zwar nicht – wie oft gemunkelt – mit goldenen Wasserhähnen ausgestattet waren, jedoch mit allem zur Verfügung stehenden Komfort. Heute bringt das Motorschiff „Julchen“ zwei Mal pro Tag ab Lauterbach auf Rügen maximal 30 Fahrgäste auf Honeckers Insel, wie Vilm genannt wurde. Dort zeigt Andreas Kußfuß die wieder frisch in gelb getünchten Häuser: Jenes mit der Nummer 1, in dem sich Walter Ulbricht erholt hat und über den sich manche noch erzählen, er sei ein volksnaher Politiker gewesen und habe während seiner Ausflüge aufs Festland mit manchem Lauterbacher Fischer Kontakt gesucht. Auch das  Ferienhaus von Erich und Margot Honecker steht noch. Und in der Nummer 6 hat Hilde Benjamin residiert, die auch „Bluthilde“ genannte Justizministerin. Diese Geschichten jedoch sind Geschichte. Längst darf man sich auf Vilm einfach unter 400 Jahre alte Eichenbäume oder riesige Ulmen setzen und dabei einem hier entstandenen Gemälde von Caspar David Friedrich nachspüren. Darf dem Geräusch der Wellen lauschen und den Höckerschwänen zuschauen, wie sie diese Insel erobern, auf der in einer Außenstelle des Bundesamts für Naturschutz ganzjährig 30 Wissenschaftler beobachten, wie die Kegelrobben zurückkehren. Oder erforschen, warum gerade hier die Pflanzenvielfalt besonders reich ist. Anreise und Führungen vor Ort: Auf die Greifswalder Oie und auf den Ruden gelangt man von Freest (Vorpommern Festland, nahe Kröslin) sowie von Peenemünde (Usedom). Fahrzeiten unter: www.schifffahrt-apollo.de Führungen auf der Greifswalder Oie und auf dem Ruden unter: www.jordsand.de Nach Vilm verkehrt das Motorschiff „Julchen“ von Lauterbach (Rügen). Fahrzeiten und Informationen zu Führungen unter: www.vilmexkursion.de Informationen und Reiseangebote zu Inseln in MV: www.auf-nach-mv.de/inseln Weitere Bilder zum Download: Wildnis pur: Naturwald auf der Insel Vilm (Foto: TMV/Grundner) Fast unberührt: Die Insel Ruden, hier mit Blick auf den Peenemünder Haken (Foto: Ronald Abraham) Beschaulich: Der Leuchtturm auf der Greifswalder Oie (Foto: Jordsand e. V./Thorsten Harder)