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Pressemitteilungen
07.11.2018
4 min
Bei flüchtigem Blick sieht es aus wie ein Fischgerippe. Es könnte aber auch eine Hieroglyphe sein oder ein okkultes Symbol. Schaut man genauer hin, gleicht es eher einem umgekippten Strichmännchen mit Kopf, Armen, Körper und einem abgespreizten Bein. Doch mit Totenkult hat das Ganze wohl kaum zu tun. Was also mag das bedeuten?
Das geheimnisvolle Zeichen ist in den östlichsten der vier Pfeiler geritzt, die das Rathaus zu Grimmen auf den Schultern tragen. Sehr diskret angebracht – in Wadenhöhe an der schattigen Innenseite der Arkade – wäre keiner darauf gestoßen, hätte Dr. Sabine Fukarek nicht darauf hingewiesen. Jetzt amüsiert sich die Chefin des Heimatmuseums prächtig über die waghalsigen Interpretationen und unbeholfenen Deutungsversuche der anwesenden Laienschar.
Das zweigeschossige, um 1400 erbaute Rathaus der vorpommerschen Kleinstadt ist ein Paradebeispiel für die hohe Kunst, aus gebackenen Ziegeln sowohl wuchtige Mauern als auch spielerische Details mit unglaublicher Leichtigkeit zu einem harmonischen Gebilde zu verschmelzen. Mit aufstrebendem Pfeilergiebel erinnert es zum einen an die im Ostseeraum typischen Patrizierhäuser; doch auch Parallelen zu den Rathäusern von Lübeck und Stralsund sind erkennbar. Genau wie dort dominiert überdies das Rathaus den Markt und nicht die eher abseits gelegene Kirche – Ausdruck des Selbstbewusstseins mittelalterlicher Kaufleute.
Im Backsteinparadies Mecklenburg-Vorpommern freilich ist Grimmen trotz Rathaus und dreier Stadttore allenfalls eine Fußnote. Denn schon in nächster Nähe sind Größe und Erhabenheit der mittelalterlichen Backsteinbaukunst in atemberaubender Art und Weise manifest; beherrschen gotische Giganten, die so genannten roten Hünen, den Himmel über den Städten der Hanse. So überragen im nahen Greifswald der Dom St. Nikolai und die „Dicke Marie“ mit fußballfeldgroßem Dach die Altstadt. So verschmilzt in Stralsund St. Nikolai, der ganze Stolz der Bürgerschaft, beinahe mit dem Backsteinwunder des sechsgiebligen Rathauses. Der 117 Meter hohe Turm der Petrikirche zu Rostock ist auf See noch in 50 Kilometer Entfernung zu sehen. Und das Münster des Zisterzienserklosters in Doberan gilt unter Fachleuten als genialste Synthese aus mönchischer Strenge und kompakter Eleganz.
Und das ist längst nicht alles: Unter den Höhenflügen aus Stein ducken sich Altstadtkerne mit prachtvollen Häusern, Fassaden, Türmen, Toren, Giebeln, Wallanlagen – allesamt aus leuchtend rotem Backstein. Mit sieben Achsen etwa entfaltet das Haus Nummer elf am Greifswalder Markt den gesamten Formenreichtum spätgotischer Schmuckgiebel – an der ganzen Ostsee dürfte es kaum ein schöneres Bürgerhaus aus dem Mittelalter geben. Und auch die UNESCO-Welterbe-Altstädte von Stralsund und Wismar haben diesbezüglich jede Menge Pretiosen im Angebot.
Die Spur der Steine führt weit zurück. Durch die Gründung von Städten und die ostelbische Christianisierung wird im Mittelalter ein Bauboom ohnegleichen ausgelöst. Die neue Zeit verlangt nach massiven und repräsentativen Gebäuden, für die Holz und Lehm als Baustoff nicht mehr in Frage kommen. Doch in der ganzen Gegend existiert kein Material, aus dem die Neusiedler Steine herstellen können. Zwar gibt es Granitfindlinge in Hülle und Fülle; doch die sind viel zu hart und finden allenfalls beim Bau von Dorfkirchen Verwendung.
Um die großen Bauvorhaben anzugehen, muss man also Steine aus Tonerde brennen. Bis dato eine mühsame Sache, da die Ziegel per Hand geformt und dabei unregelmäßig werden. Der Durchbruch gelingt cleveren Kaufleuten mit einer revolutionären Technologie: Sie erfinden den hölzernen Formkasten, mit dem Backsteine gleichmäßig und in Serie gefertigt werden können. Die zwischen 800 und 1000 Grad „gegarten“ Steine eignen sich für Säulen und Mauern, für Verzierungen und Spitzen. Aus wenigen Grundbausteinen lassen sich allein durch unterschiedliche Anordnung erstaunlich viele Muster erzeugen. Und dort, wo der Stein die architektonischen Möglichkeiten einschränkt, erfinden die Baumeister eine einzigartige Formensprache aus Blendgiebeln, Bögen und Mustern. Die für den Backstein typische Farbe entsteht übrigens beim Brand, wenn gelbliches Eisenhydroxid in rotes Eisenoxyd verwandelt wird.
Dass Backstein bis in die Neuzeit ein attraktives Baumaterial blieb, auch dafür liefert Grimmen ein vorzügliches Beispiel. Der Wasserturm auf dem Schlossberg wurde 1933 gebaut und 1945 durch die kampflose Übergabe der Stadt an die Rote Armee vor der Sprengung durch die SS bewahrt. In seinem Innern erfährt man darüber hinaus manches über die Verbrennung von einheimischen Hexen. Von seiner Aussichtsplattform streift der Blick über 700 Jahre vorpommersche Kleinstadt-Geschichte.
Zurück am Rathaus bleibt noch das Rätsel des geheimnisvollen Zeichens aufzulösen. Sabine Fukarek hat zwei Deutungen parat: „Manche meinen, es könnte ganz simpel ein Logo des Zieglers sein, also des Herstellers. Variante Nummer zwei: Es symbolisiert den Gerichtsstand.“ Und dafür spricht einiges mehr, wie die Expertin verrät. Im Zeichen nämlich seien Schwert und Waage als ägyptische Gerechtigkeitssymbole sowie der griechische Buchstabe Tau vereint; sie sprächen für den Willen, nach festgeschriebenen Gesetzen zu handeln, Schuld und Unschuld gewissenhaft abzuwiegen und ein gerechtes Urteil zu fällen.
Besonders atmosphärisch übrigens ist die ganze Pracht und Herrlichkeit der Backsteingotik ab Ende November, wenn die Elektro-Wichtel des Weihnachtsmannes in den Altstädten von Rostock, Stralsund, Wismar und Greifswald hunderttausende Lichter anknipsen. In deren Glanz verwandeln sich dann die prächtigen Marktplätze und verwinkelten Altstadtgassen in zauberhafte Kulissen für die alljährlichen Weihnachtsmärkte. In Stralsund geht man dabei sogar in den Untergrund: Der Rathauskeller gilt als größtes erhaltenes gotisches Gewölbe im gesamten Ostseeraum und wird in der Adventszeit zur kuschligen Kulisse für Weihnachtsmarkt und Weihnachtsmann.
Weitere Informationen: www.auf-nach-mv.de/backstein
Weitere Fotos zum Herunterladen:
Der Dom St. Nikolai in Greifswald (Quelle: TMV/Torsten Krüger)
Backsteinornamente am einem Kirchenportal (Quelle: TMV/René Legrand)
Das gotische Rathaus in Grimmen (Quelle: TMV/Frank Neumann)
Ausblick auf die St.-Marien-Kirche in Stralsund (Quelle: Tourimuszentrale Hansestadt Stralsund/Erik Hart)